1945 - 1950
Pfeffersäcke und Weltmusiker - Die Gründungsphase
Ein dornenreicher Weg
Die Geschichte Hamburgs und seiner akademischen Einrichtungen ist zunächst keine allzu traditions- oder gar ruhmreiche. Als Millionenmetropole verfügt die Hansestadt bis Anfang des 20. Jahrhunderts lediglich über ein „Akademisches Gymnasium“ sowie eine Anzahl wissenschaftlicher Institute, zu der bezeichnenderweise auch der Botanische Garten und die Sternwarte zählen. Erst die Gründung der „Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung“ im Jahre 1907 und des Kolonialinstituts im Jahre 1908 sind zwei wichtige weitere Stationen auf dem Wege zu einer Universität. Obwohl der spätere Bürgermeister Werner von Melle sich bereits als Senator die Gründung einer Universität zur Lebensaufgabe gemacht hatte, scheitert dieser Plan in der nach Klassenwahlrecht zusammengesetzten „Bürgerschaft“. Dort überwogen die Stimmen, die Hamburg auf seine dominierende Rolle als Handelsmetropole beschränkt wissen wollen und sowohl die Kosten einer Universität als auch die gesellschaftlichen Ansprüche ihrer Professoren scheuen. Erst die nach Ende des Ersten Weltkrieges demokratisch gewählte Bürgerschaft beschließt in einer ihrer ersten Sitzungen die Gründung einer „Hamburgischen Universität“. Sie wird am 10. Mai 1919 in der Hamburger Musikhalle feierlich eröffnet.
Hanseatische "Pfeffersackmentalität"
Ein gewisses Maß dieser „Pfeffersackmentalität“ spiegelt sich auch in der Gründungsgeschichte der Hamburger Musikhochschule wider. Zwischen den beiden Weltkriegen konnte man in jeder deutschen Großstadt von auch nur annähernd gleicher Größe und Bedeutung in städtischen oder staatlichen Musikinstituten als Laie oder Berufsmusiker seine Förderung bzw. Ausbildung erfahren. Der spätere Direktor der Musikhochschule, Hajo Hinrichs, erinnert sich in einer Denkschrift anlässlich der Eröffnung des Neubaus 1986: „Es ist ein Unikum, dass man bis zum Jahre 1942 in Hamburg, der immerhin zweitgrößten deutschen Stadt, sich nur auf privatem Wege, bei einzelnen Privatmusiklehrern oder in Privatkonservatorien weiter- und ausbilden konnte. Wer in Städten mit jahrzehntelanger musikalischer Tradition gelebt hat, weiß, was es für das musikalische Klima und das kulturelle Niveau einer Stadt bedeutet, ob sie eine von der öffentlichen Hand unterhaltene Musikschule besitzt oder nicht. Dass dies in Hamburg so lange Zeit nicht der Fall war, empfinde ich als eine jener Belastungen, unter denen die Hamburger Musikhochschule bis heute zu leiden hat.“
Vorstufe einer Musikhochschule
Die Weltwirtschaftskrise Ende der 20er Jahre bedeutet das Aus für viele der damals in Hamburg existierenden Privatkonservatorien. Eines der renommiertesten und am besten ausgestatteten, das „Vogt’sche Konservatorium“, wird 1942 von der Stadt als „Schule für Musik und Theater der Freien und Hansestadt Hamburg“ übernommen. Zu seinem Leiter wird der Hamburger Komponist Ernst Gernot Klussmann berufen, der bis dahin als Dozent an der Staatlichen Musikhochschule in Köln tätig gewesen war. Klussmann wird mit dem ausdrücklichen Auftrag berufen, aus der Schule die Vorstufe einer Musikhochschule zu entwickeln, eine Aufgabe, die durch den Kriegsverlauf und die immensen Zerstörungen stark behindert wird. So arbeitet diese städtische „Schule für Musik und Theater“ weiterhin im Rahmen eines Privatkonservatoriums, wenngleich auch einige hervorragende Lehrkräfte gewonnen werden können.
Erste Staatliche Musikhochschule
Erst 1950 entschließt sich die Stadt, aus der städtischen Schule eine Staatliche Musikhochschule zu machen. So vermeldet das Hamburger Abendblatt am 4. Oktober 1949 in betont hanseatischer Nüchternheit: „Die durch Gesetz vom 14. September 1949 errichtete Staatliche Hochschule für Musik wird am 1. April 1950 nach Umwandlung der ‚Schule für Musik und Theater‘ ihre Tätigkeit aufnehmen. Als Direktor wurde Professor Philipp Jarnach (z. Z. Köln) verpflichtet; Stellvertreter ist Professor E.G. Klußmann. Die drei Hauptabteilungen (künstlerische, berufliche und pädagogische Ausbildung) werden von den Professoren Klußmann, Ditzel und Jöde geleitet werden.“
Ein knappes halbes Jahr später schleicht sich dann doch noch ein gewisser weihevoller Ton in die Berichterstattung ein, wenn auch nur auf Seite 17: „Aufbau und Gesamtbild der neuen Hamburger Hochschule für Musik stehen nunmehr fest. (…) Ein lange gehegter Wunsch des Hamburger Staates ist mit dieser Umwandlung der Städtischen Musikschule in eine Hochschule erfüllt worden. Wie betont wird, ohne erheblichen finanziellen Mehraufwand. Am 13. April ist Semesterbeginn, am 17. März beginnen die Aufnahmeprüfungen. Wenn am 12. April die feierliche Eröffnung in der Musikhalle stattfindet, wird sie der Wunsch begleiten, dass unsere Hochschule die erstrebte (und gegebene) repräsentative Stellung im nord- und niederdeutschen Raum zu verwirklichen vermag.“
Wirtschaftliches Elend
Anfang der 50er Jahre ist diese Gründung angesichts der noch immer katastrophalen baulichen und wirtschaftlichen Situation der Stadt jedoch nicht unumstritten. Dazu Hajo Hinrichs in seiner Denkschrift: „Der damalige Regierungsdirektor Dr. Simonsen hatte sicher recht, wenn er meinte, dass diese Hochschulgründung eigentlich fünf Jahre zu früh erfolgt sei, ehe nämlich die Konjunktur und das Wirtschaftswunder sich spürbar auswirken konnten. Es ist eine lange und ‚dornenreiche‘ Geschichte – wie der spätere Erste Bürgermeister Hamburgs, Herbert Weichmann, sie einmal nannte – die mit der Gründung des Instituts ihren Anfang nahm. Musikinteressierte Bürger dieser Stadt hatten sich mit Fachleuten zusammengetan, um im wirtschaftlichen Elend der Nachkriegszeit die Errichtung einer Staatlichen ‚Hochschule für Musik und Darstellende Kunst‘ zu betreiben. Eine Bürgerinitiative, würde man heute sagen, die Dank der tätigen Mithilfe des kunstsinnigen und engagierten Kunstsenators Heinrich Landahl zum Erfolg führte.“
Interimslösung Budge Palais
Was dieser frühen Neugründung vor allem zu schaffen machen sollte, ist die weder räumlich noch fiskalisch ausreichende Ausstattung der neuen Hochschule. So wird auch eine klare Entscheidung für den Neubau über zwei Jahrzehnte hinweg immer wieder aufs Neue mit dem Hinweis auf die jeweilige wirtschaftliche Lage vertagt: Mal war es der konjunkturelle Rückgang und die dadurch fehlenden Mittel, mal die konjunkturelle Überhitzung und der Zwang zum antizyklischen Handeln, der entsprechende Pläne torpedierte. „Zehn Jahre nach ihrer Gründung wusste man die Musikhochschule im Bürgermeisteramt noch nicht einmal zu lokaliseren!“, wie Hajo Hinrichs mit gewisser Empörung vermerkt. Das ist allerdings insofern verständlich, als die Musikhochschule in den 50er Jahren über die Stadt verstreut in angemieteten Räumen untergebracht ist; für Prüfungen und Veranstaltungen muss zusätzlich die Kleine Musikhalle herhalten. Diese Situation bessert sich erst, als ein Teil des Unterrichtsbetriebes vom Curio-Haus in der Rothenbaumchaussee in das Budge-Palais am Harvestehuder Weg verlagert wird, wo es auch einen kleinen Kammermusiksaal gab. Dies sollte gleichwohl eine Interimslösung sein, und der damalige Direktor Jarnach musste sich von politischer Seite gar sagen lassen, dass man eine solch repräsentative Immobile nicht an eine Musikhochschule „vergeuden“ wolle. Und von einem professionellen Podium für Konzert und Oper, wie es das 1986 eingeweihte Forum darstellt, kann man in jenen Jahren nur träumen.
Suche mit "Knalleffekt"
Dass Anspruch und Möglichkeiten nicht notwendigerweise übereinstimmen müssen, um zu guter Letzt doch noch das Gewünschte zu erreichen, dafür liefert die (Vor-)Gründungsphase der Hamburger Musikhochschule auch abseits der räumlichen Problematik jener Jahre ein schönes – und fast in Vergessenheit geratenes – Beispiel.
Den Vorwurf mangelnder Ambitioniertheit brauchen sich die Lehrkräfte der „Hamburger Schule für Musik und Theater“ jedenfalls nicht gefallen zu lassen, als sie fünf Monate nach Kriegsende erste konkrete Schritte unternehmen, um ihr Institut in eine Staatliche Musikhochschule umzuwandeln. Das Vorhaben an sich ist dabei nichts Neues, wenngleich Hamburg und seine Bewohner im Spätherbst 1945 andere Probleme gehabt haben dürften, als künftigen Musikstudenten endlich eine akademische Heimstatt zu bieten. Für den „Knalleffekt“, wie es Stefan Weiss in einem Beitrag anlässlich des 50jährigen Bestehens der HfMT umschreibt, sorgt allerdings der Name des künftigen „Wunschdirektors“: Paul Hindemith.
Wunschkandidat Paul Hindemith
Hindemith, 1895 in Hanau geboren, lebt gegen Ende des Krieges bereits einige Jahre mit seiner jüdischen Ehefrau im Exil in New Haven (Connecticut), wo er eine Lehrtätigkeit an der Universität Yale aufgenommen hat. Seine expressionistischen Kompositionen der Zwanziger Jahre haben ihm den Ruf eines musikalischen Bürgerschrecks eingetragen, bevor er sich im darauffolgenden Jahrzehnt einer neoklassizistischen Musiksprache zuwendet. Von den Nationalsozialisten mit Aufführungsverbot belegt, zählen seine Werke bereits zu den bedeutendsten Kompositionen zeitgenössischer Musik. Dazu Stefan Weiss: „Wer damals als den Leiter einer neu zu begründenden Musikhochschule Paul Hindemith benannte, wollte nicht eine gewöhnliche Ausbildungsstätte unter vielen errichten, sonder mit der Neugründung gleichzeitig einen Coup landen, der der Gründung eine sofortige weltweite Beachtung gesichert hätte.“
Und dieser „Coup“ wäre umso spektakulärer gewesen, als Hamburg noch nicht einmal geeignete Räumlichkeiten für eine Musikhochschule aufbieten konnte. Dazu kommen ständige Querelen um die Schulleitung, so dass das Vorhaben insgesamt Gefahr läuft, auf die lange Bank geschoben zu werden oder gänzlich im Sande zu verlaufen. Allerdings hatte sich Hamburg in den ersten Nachkriegsjahren mit dem Philharmonischen Orchester unter Eugen Jochum und dem neugegründeten Sinfonieorchester des Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR) unter Hans-Schmidt-Isserstedt als Musikstadt ersten Ranges positioniert. Die Qualität beider Orchester sowie die inmitten der Ruinen des alten Hauses stattfindenden und vom Publikum wie Kritikern begeistert aufgenommenen Inszenierungen der Hamburger Staatsoper lassen die 1947 von Hamburger Musikern und Musikinteressierten gegründete „Hochschulgesellschaft“ wieder Hoffnung schöpfen.
Philipp Jarnach - Verlegenheitslösung oder ebenbürtiger Rivale?
In der Zeitschrift „Musica“ vom Februar 1947 wird dann auch in Zusammenhang mit der Errichtung einer Hamburger Musikhochschule erstmals Philipp Jarnach als möglicher Direktor erwähnt. Dass dieser Name in der Folgezeit immer häufiger auftaucht und schließlich favorisiert wird, erweckt den Anschein, dass die Gestalter des Projektes sich von den schlagzeilenträchtigen Hindemith-Plänen verabschiedet und hanseatisch-pragmatisch einen unspektakulären „Ersatz“ auserkoren hatten, zu dem obendrein drei der vier Direktoren der „Schule für Musik und Theater“ in der Vergangenheit enge persönliche wie berufliche Beziehungen unterhalten hatten.
Ist die Wahl Philipp Jarnach zum ersten Direktor der Hamburger Musikhochschule also so etwas wie eine Verlegenheitslösung? Dem widerspricht Stefan Weiss in seinem bereits erwähnten Beitrag ganz entschieden: „Tatsächlich stellte die Nominierung Jarnachs als Direktor für das damalige Verständnis keineswegs einen Rückschritt hinter die so hochambitionierten Pläne um Hindemith dar. Denen, die das Musikleben der Weimarer Republik noch in Erinnerung hatten, war Jarnach durchaus als ebenbürtiger Rivale Hindemiths um die Position der größten deutschen Nachwuchskomponisten im Gedächtnis“.
Weltmusiker auf Weltstadtposten
Ein Blick in die deutsche Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts gibt dem recht. 1892 als Sohn eines Spaniers und einer Flämin geboren, gehörte Philipp Jarnach in den 1920er-Jahren zu den führenden Komponisten moderner Musik und wurde in einer Reihe mit Strawinsky, Schönberg, Bartók – oder eben Hindemith – genannt. Aufgrund seiner familiären Herkunft und mit Wirkungskreis in Frankreich, der Schweiz und in Deutschland ist er ein europäischer Komponist par excellence, befreundet mit Ferruccio Busoni und Richard Strauss, Zimmergenosse von James Joyce und Lehrer unter anderem von Kurt Weill. Jarnach war Organisator sezessionistischer Konzerte, ein überragender Pianist, und als Komponist Hoffnungsträger derjenigen Beobachter des Musiklebens, die nicht die Negation der Tonalität, sondern die Integration von Tonalität und Atonalität als Zukunftsweg der Musik wünschten. Bei den berühmten „Donaueschinger Musiktagen“ im Sommer 1921 hat sein Streichquintett op. 10 neben Hindemiths op. 16 den grüßten Eindruck gemacht, und beide werden im September 1927 gleichzeitig als die jüngsten Kompositionslehrer Deutschlands an die damals einzigen Staatlichen Musikhochschulen (Jarnach in Köln, Hindemith in Berlin) berufen. Keine „Graue Maus“ also, sondern als Direktor der am 11. April 1949 feierlich eingeweihten „Staatlichen Hochschule für Musik und Theater“ ein – wie das Hamburger Abendblatt mit Stolz hervorhebt – „Künstler von internationalem Rang“, ein „Welt-Musiker auf einem Weltstadt-Posten“. Ob Paul Hindemith übrigens die Geschicke der Hamburger Musikhochschule weiter verfolgt hat, darüber lassen sich nur Vermutungen anstellen. Tatsache ist, dass er 1954 den Bach-Preis der Freien und Hansestadt Hamburg verliehen bekommt – drei Jahre nach Philipp Jarnach.