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Raum '200 blau'

Die Komponisten Xiaoyong Chen und György Ligeti sind im Gespräch vertieft
Prof. György Ligeti mit seinem Schüler Xiaoyong Chen 1997

Unterrichtsraum von György Ligeti

Von 1973 bis zu seiner Emeritierung 1989 war György Ligeti Professor für Komposition an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Seine kosmopolitische Haltung, sein Wirken als Lehrender, seine künstlerische Vielfalt, sein interdisziplinäres Denken und nicht zuletzt seine immense Bedeutung für die Entwicklung der Neuen Musik wirken bis heute in der Hochschule nach. Anlässlich seines 100. Geburtstages plant die HfMT vom 2. bis 7. Mai 2023 eine Festwoche, die u. a. Meisterkurse und Konzerte sowie ein wissenschaftliches Symposium umfasst.

Er unterrichtete in Raum 200 im blauen Trakt.
Wie war wohl der Unterricht bei ihm? Lassen wir 3 seiner ehemaligen Studenten zu Wort kommen.


Manfred Stahnke

Manfred Stahnke spricht über den Unterricht bei György Ligeti.
Ein Ausschnitt aus der ORF Produktion Grenzklänge – Das Phänomen György Ligeti aus dem Jahre 2003.
Regie: Herbert Eisenschenk


Xiaoyong Chen

Eine angelehnte Tür und ein Tor zur Welt - Erinnerungen an die 80er mit György Ligeti

Eine Reise ins Unbekannte, aber hoffnungsvoll in die Zukunft?
Im August 1985 kam ich in Hamburg an. Die Tür zur Wohnung im zweiten Stock in der Mövenstraße begrüßt mich angelehnt und mit einer Stimme: „Herein“. Ich war etwas nervös und sah plötzlich den Meister vor mir. Ist das alles real oder nur ein Traum? Den Namen György Ligeti hörte ich zum ersten Mal Ende 1980. Das riesige China hatte sich
nach 30 Jahren Isolation gerade wieder der Welt geöffnet. Damals war ich wie ein Frosch im Brunnen und glaubte, die Welt sei so groß wie ein strahlender Vollmond.

Kleine Informationen über meine ersten Musikkontakte
Als Jugendlicher in den frühen 70er Jahren hörte ich zum ersten Mal europäische klassische Musik durch ein paar 78-Gramm-Vinylplatten, die mein Vater besaß. Nach einer Weile hörte ich heimlich die Tonbänder mit Debussy, Bartók und Strawinsky. Damals war solche Musik noch verboten. 1980 begann ich Komposition in Beijing zu studieren und fünf Jahre später bei Ligeti in Hamburg. 1986 lernte ich die Darmstädter Ferienkurse und ein Jahr später die Donaueschinger Musiktage kennen. Seither bin ich ein Komponist.

Das Studium bei Ligeti
Der Unterricht begann immer mittwochs um 15:00 Uhr und lief bis spät in die Nacht bei ihm zu Hause. Jeder brachte eine eigene Partitur mit, damit alle sie lesen konnten. Meistens fragte Ligeti nach Meinungen, bevor er die Diskussion mit seinen Worten beendete. Eines Tages war ich daran, meine Kompositionen zu präsentieren. Ich hatte drei Stücke aus meiner Pekinger Zeit mitgebracht: ein Violinkonzert, ein Klavierquintett und mehrere kurze Klaviersoli.

Als ich meine Heimatstadt verließ, freute ich mich darauf, viel nachzuholen. Eine Nachholung sollte heißen: alle modernen Kompositionstechniken erlernen und beherrschen. Meine Erwartungen wurden an diesem Tag nicht erfüllt. Im Gegenteil, Ligeti war von meinem Violinkonzert weniger begeistert und meinte, das sei zwar technisch gut gemacht,
aber zu sehr von der polnischen Schule beeinflusst. Unerwarteterweise schenkte er dem Klavierquintett mehr Aufmerksamkeit.
Vom Western war ich kaum berührt. Stattdessen hatte ich Ideen in Anlehnung an die Pekingoper oder an eine Sprachmelodie, die ich frei gestalten konnte. Ligeti ermutigte mich, „auf diesen Weg weiterzugehen“. Obwohl ich damals die genaue Bedeutung dieses Satzes nicht wirklich verstand, begann ich mit dieser Idee ein neues Stück zu schreiben.
Anfang Juni 1986 hatte ich bereits einen Teil der Partitur für das Erste Streichquartett. Ich zeigte sie der Klasse. Ligeti wartete eine Weile und sagte: "Diese Musik ist mir fremd. ... es muss gespielt werden", "Geh zu Arditti" ...

Besuch bei den Darmstädten Ferienkursen und den Donaueschenger Musiktagen
„Musikalisches Fenster geöffnet“, „Lebenswichtig“, so schrieb es ihm sein Lehrmeister György Ligeti ins Zeugnis, …“ so stand es in der regionalen Zeitung (Stadt Darmstadt Juli 1986).
Friedrich Hommel sagte mir, ohne Ligetis Worte hätte er mir das Stipendium für Darmstadt nie besorgen können. Als er diesen Brief erhielt, war bis zum Beginn der Kurse nur noch ein Monat.
Als ich im August aus dem Süden nach Hamburg zurückkehrte, fand ich in meinem Briefkasten einen Brief von Josef Häusler aus Baden-Baden. Darin fragte er nach meiner Musik und dem unvollendeten Quartett. Erst im Oktober 1987 wurde mir die Bedeutung der Kleinstadt Donaueschingen im Schwarzwald bewusst.

Ein Blick zurück: Eine Reise ins Unbekannte, aber hoffnungsvoll in die Zukunft?
Im Juli 1985 schloss ich mein Studium in Beijing ab und stieg am 31. Juli in die Transsibirische Eisenbahn ein. Der Zug fuhr nach Westen. Sieben Tage lang dauerte die Fahrt, ein Umstieg in Moskau, durch Warschau bis Ostberlin. Ich ging mit zwei Koffern zu Fuß über die Berliner Mauer nach Westberlin und fuhr am nächsten Tag weiter nach Hamburg.
Die Reise, vor allem die Stecke in der ehemaligen UdSSR war überhaupt nicht reibungslos, genau gesagt sehr dramatisch. An der russisch-polnischen Grenze wurde ich mehr als zwei Stunden festgehalten. Bis heute kann ich nicht erklären, wie ich meine Freiheit wiedererlangt habe, ohne etwas zu verlieren. Ich muss von Gott beschützt worden sein.
Meine Erfahrung wurde zur Geschichte, die Ligeti immer wieder erzählte.

Aufnahmeprüfung und danach
1985 war mengenmäßig ein starker Jahrgang. An der Aufnahmeprüfung nahmen Hans Peter Reutter aus Deutschland, Sidney Corbett aus den USA, Kiyoshi Furukawa aus Japan, Unsuk Chin aus Südkorea und ich aus China teil. Am Tag nach der Aufnahmeprüfung ging ich wieder zu Ligeti. „Du warst gut in der Prüfung …“, “Ob du einen Platz bekommst oder nicht, du bist schon mein Student“.
Nachdem er sich meinen Plan angehört hatte, sagte er zu mir: „Du musst gleich Deutsch in einem Goethe-Institut lernen“. Aus seiner Hosentasche zog er zwei große Geldscheine. „Wie kann ich Ihnen das Geld zurückgeben?“, fragte ich ihn vorsichtig. Er lächelte und antwortete mir: „Du kannst es mir zurückzahlen, wenn du in zwanzig Jahren bekannt geworden bist“…

Über das Komponieren hinaus
Einmal bat er mich, nach dem Unterricht eine Weile mit ihm abzuhängen, und erzählte mir viel über seine traurige Vergangenheit, den Verlust seines Vaters und seines Bruders, die 60er und 70er Jahre und so weiter. Da wurde mir klar, dass das, was er tat und wie er mich behandelte, viel mehr bedeutete als nur die Musik oder das Komponieren selbst. Liegt es an ähnlichen Hintergründen, ähnlichen Erfahrungen und Schmerzen? Gib niemals auf und gehe mit Kampfgeist voran.

Noch ein Blick zurück: Kultureller und politischer Kontext
Ende 1972, noch vor dem Ende der sogenannten „Kulturrevolution“, führte ein Cellist aus der Schweiz vor einem von der Regierung ausgewählten Publikum in Peking ein Repertoire auf, das hauptsächlich aus Johann Sebastian Bach bestand. Er wurde von der chinesischen Regierung eingeladen. Im folgenden Jahr spielte das London Philharmonic Orchestra in
Peking Musik von Ludwig van Beethoven, Johannes Brahms und anderen. Im Sommer traten die Wiener Philharmoniker mit Claudio Abbado in China auf. Diese Programme standen in starkem Kontrast zu der Propagandamusik, die täglich von Radiosendern gespielt wurde. Jiang Qing – die Frau von Mao Zedong – leitete direkt die Projekte, deren Motto der
politische Slogan war: „Diene der Vergangenheit für die Gegenwart und lass ausländische Dinge China dienen“. Praktisch hatte mir das ein kleines Fenster geöffnet, um mit fremden Kulturen in Kontakt zu kommen.

Erst mit dem Tod von Mao Zedong am 9. September 1976 erlebte China einen großen Wendepunkt. Die Geigen-Virtuosen Isaac Stern und Yehudi Menuhin kamen 1979 nach Beijing und unterrichteten in Beijing. China trat ideologisch in ein blühendes Zeitalter ein. Was vorher verboten war, erwies sich nun wieder als legal. Die moderne Kunst, die in der
Vergangenheit als „bürgerliche korrupte Kunst“ bezeichnet worden war, wurde wieder in die Kristallisation der menschlichen Zivilisation einbezogen. Eine Gruppe junger Menschen reagierte begeistert und wollte alles, was sie verloren hatte, zurückholen und schnell in die Welt zurückkehren. Es war diese persönliche Erfahrung von mir, die Ligeti anzog.
Es ist nicht leicht, das alles zu verstehen, wenn man das China zu dieser Zeit nicht kennt. Kulturelle Äußerungen sind in vielen Ländern sehr offen, aber China war zu dieser Zeit ein Vakuum, und das „Schicksal“ der Menschen lag nicht in ihren eigenen Händen. Das sogenannte Vakuum bedeutete, dass niemand von offener Kultur wissen durfe. Ein in einem Käfig eingeschlossener Vogel kann den Raum um den Käfig herum sehen, aber es ist absolut unmöglich, diesen freien Raum zu erreichen. Eine Generation älterer Kollegen als ich, die in den 50er und 60er Jahren versuchten, moderne Musik zu schreiben, gerieten in lebensbedrohliche Situationen.
Wie bei einem durstigen und hungrigen Menschen können extreme Überreaktionen viele Formen annehmen. Einmal richtig frei, scheint es ein seltsames Gefühl von Freude, Leidenschaft, Neugier, aber auch Unsicherheit, Orientierungslosigkeit und sogar Angst zu geben.

Kulturelle Identität und künstlerische Orientierung
Ich bin in einem Land weit weg von Europa aufgewachsen, mit spezifischen kulturellen Merkmalen. Das kann ein "Schwachpunkt" sein, wenn ich mich mit europäischer Musik beschäftige. Eine Zeit lang hatte ich das beklemmende Gefühl, dass viele Menschen in anderen asiatischen Ländern wie Japan, Südkorea, sogar in einigen südasiatischen Ländern, viel mehr wussten als ich. Es hat eine Weile gedauert, bis ich die „Mängel“, die ich in meiner Kindheit und Jugendzeit hatte, und diesen „Schatten“ überwinden konnte! Dies hat sich nach vielen Jahren in positive Energie verwandelt. Dafür danke ich meinem Mentor Ligeti! Bis heute bezeichne ich mich gerne als eine Person, die „aus Versehen“ in eine Gruppe von Komponisten „gerutscht“ ist, und die den letzten Zug auf halber Strecke erwischt hat.
Damals hatte ich noch keine Vorstellung vom „Komponistenberuf“, aber ich war entschlossen. Ligeti hat viel für mich getan. Nicht nur das, er führte mich auch auf die Schiene eines Komponisten - als unersetzlicher und unverwechselbarer Mensch. Als Herausforderung sollte, so Ligeti, für ihn immer die Originalität im Vordergrund stehen.

Die Ligeti Klasse und die Bedeutung des Komponierens
In diesen Jahren war ich in einem engen Arbeitsteam. Es gibt einige Leute in der Gruppe, denen ich aufrichtig danke, weil sie mir geholfen haben, wie Tamae, Kiyoshi, Manfred usw. Diejenige, die sich am meisten um mich kümmerte, war Louise Duchesneau, wie meine große Schwester. Das Komponieren ist heute ein viel größerer Teil meines Lebens als noch vor 38 Jahren. Für mich ist dies die wichtigste Form der Fixierung und des Ausdrucks innerer Gedanken und
Gefühle. Musik ist ein Reaktionsmedium auf meine Wahrnehmung und Weltanschauung. Eine ernsthafte und selbstkritische Haltung ist sehr wichtig. Ebenso wichtig ist es, mutig zu sein, anstatt zu zögern oder zu warten. Um all dies möglich zu machen, möchte ich meinem Lehrer Ligeti danken, der mir einen Weg gezeigt hat. Er hat mein Leben verändert und mir geholfen, mich fast 20 Jahre lang ohne finanzielle Belastung auf das Musikschreiben zu konzentrieren. Hier erlaube ich mir, einen kleinen Teil des "Geheimnisses" zu lüften:

„1. Dez. 94
Liebe Huihong,
lieber Xiaoyong,
herzlichste Glückwünsche für VERONIKA!
Ich denke, als Geburtsgeschenk ist es praktischer, wenn Ihr wählt, was notwendig ist –
deshalb bitte akzeptiert die beigefügte Summe – real und symbolisch,
Euer György Ligeti“

erinnert von Prof. Xiaoyong Chen
Hamburg, 12. Januar 2023

Wolfgang-Andreas Schultz

Handwerk und Ästhetik – György Ligeti als Lehrer

I.
Von 1975 an, als ich als Student in die Kompositionsklasse von György Ligeti eintrat (als „außerordentlicher Student“, wie man es damals in Hamburg nannte, denn ich hatte mein Kompositionsstudium bereits mit dem Diplom abgeschlossen) bis zu seiner Pensionierung 1988 habe ich mit Ligeti zusammengearbeitet, zunächst als sein Schüler, dann als sein Assistent. In Fragen des kompositorischen Handwerks haben wir uns immer glänzend verstanden, obwohl wir in ästhetischen Fragen recht unterschiedlich empfanden. Vielleicht ist diese Differenz nicht die schlechteste Voraussetzung, um anhand der Erinnerungen an Ligeti als Lehrer über das Verhältnis von Handwerk und Ästhetik zu reflektieren.

Es muss 1976 gewesen sein, dass Ligeti und seine Klasse, wie oft, die Mittagspause im „Café Bohème“ nahe der Musikhochschule verbrachten, als er sagte: „Eigentlich müsste jeder von euch bei mir Kontrapunkt machen, ganz strenger Bach-Stil, so wie ich es in Budapest bei Farkas gelernt habe – das nützt einem beim Komponieren sehr viel. Aber leider komme ich nicht dazu, es mit jedem zu machen – deshalb habe ich mir bei meiner Berufung zusichern lassen, einen Assistenten beschäftigen zu dürfen. Dieser Assistent soll für die künftigen Schüler den Kontrapunktunterricht übernehmen. Möchte einer von euch das machen? Das würde eine ganz harte Lehrzeit von 2 Jahren bei mir bedeuten, da wird keine Zeit bleiben für das eigene Komponieren, und danach werde ich mit der Hochschule über Lehrauftragsstunden verhandeln.“ Ich verstehe bis heute nicht, warum ich der Einzige war, der sich gemeldet hat. Gut, ich komme aus einer Kirchenmusiker-Familie und bin mit Bachs Musik groß geworden, traute mir also ein gutes Gefühl für den Stil zu, und hatte durch meinen ersten Lehrer Ernst Gernot Klussmann schon eine gute Grundlage in Kontrapunkt erhalten, allerdings nicht im Bach-Stil.

Meine Kontrapunkt-Lehrzeit bei Ligeti war sehr intensiv. Im Gegensatz zum Kompositionsunterricht, der fast ausschließlich in der Gruppe stattfand, war dies jetzt Einzelunterricht. Ligeti hatte ein unglaublich scharfes Ohr für Unstimmigkeiten im Stil, sei es, dass eine Modulation in die Dominant-Tonart etwas zu lang geraten war, sei es, dass ein stilistisch anfechtbarer Quartsextakkord vorkam. Er selber war aber mittlerweile von der Praxis des Bach-Stils zu weit entfernt, als dass er konkrete Verbesserungen vorschlagen konnte – die musste ich selber herausfinden. Nach einer 3-stimmigen Fuge mit chromatischem Thema, die als ganze gespiegelt werden konnte nach dem Vorbild der „Kunst der Fuge“, nach einem 5-stimmigen Choralvorspiel mit cantus firmus im Kanon und einer 3-stimmigen Choralbearbeitung mit cantus firmus im Baß und zwei im Kanon geführten Oberstimmen drückte er mir die Hand und erklärte mich zum „Meister des Kontrapunkts“. Die Lehrzeit dauerte nur ein und ein Viertel Jahr, und ich habe nebenbei mein „Konzert für Viola da Gamba und Orchester“ komponiert.

So erhielt ich 1977 einen Lehrauftrag an der Hamburger Musikhochschule für Musiktheorie einschließlich der Assistenz in der Kompositionsklasse von György Ligeti. Neben dem Kontrapunktunterricht für alle ab jetzt bei ihm studierenden Komponisten (manche kamen für ein Jahr aus dem Ausland, manche hatte bereits ein Studium abgeschlossen) umfasste meine Tätigkeit bald auch den gesamten Theoriebereich (Harmonielehre, Bach- und Palestrina-Kontrapunkt, klassische Instrumentation, Modulation, Kadenzspiel usw.) für alle diejenigen, die ein Diplom an der Musikhochschule Hamburg anstrebten.

Um den Kontakt zu Ligeti zu halten und um die kompositorische Entwicklung meiner Kontrapunktschüler zu verfolgen, nahm ich immer wieder, in unregelmäßigen Abständen, an den Klassenstunden teil und stellte dort auch meine jeweils neuen Kompositionen vor. Gelegentlich kam es sogar vor, dass Ligeti mich um Unterstützung bat, etwa im Falle eines Studenten, der ein unglaublich komplexes Orchesterwerk vorlegte und stur behauptete, es sei durchhörbar. Ligeti war da ganz anderer Meinung und bat mich schließlich, zu erklären, warum die Partitur nicht durchhörbar ist. Ich versuchte dem Studenten klar zu machen, dass man Ereignisse zu Schichten bündeln und übergeordnete Prozesse und Entwicklungen komponieren müsse – Ligeti war mit meiner Erklärung offenbar sehr zufrieden, und die Aufführung muss uns beiden Recht gegeben haben.

So sehr der Eindruck entstand, Ligeti verlange absolute Professionalität im Handwerklichen, so wenig waren seine Zweifel an diesem Ideal zu überhören. Ihn faszinierte ebenso die Idee – oder soll man sagen: das Phantom? - eines ungeschulten Originalgenies. Mussorgskij war für ihn ein solches Beispiel, als Gegenbild zur bisweilen etwas akademischen Professionalität eines Rimsky-Korssakow. Er liebäugelte immer wieder mit dem von europäischer Kultur und europäischen Maßstäben weitgehend unbelasteten Kulturraum der amerikanischen Westküste. Aber von Hamburg nach Los Angeles zu wechseln konnte er sich dann doch nicht entschließen, wusste er doch zu gut, dass er den europäischen Kulturraum brauchte, in dem er verwurzelt war.

Gleichwohl – die Frage: „Kann ein gutes Handwerk einen Komponisten auch behindern?“ stand immer wieder im Raum.

II.
Nun hat der Begriff „Handwerk“ eine ganz Reihe von Facetten – die unterste Ebene meint die Beherrschung gewisser Kompositionstechniken der eigenen Tradition, wie eben Kontrapunkt als Technik, die Simultaneität mehrerer in sich sinnvoller Ereignisse zu bewältigen, aber auch die Beherrschung der Harmonik und der klassischen Formensprache. In der Tat birgt Handwerk in diesem Sinne die Gefahr, sich auf erprobte, traditionelle Lösungen zu verlassen, gerade wenn ein Komponist diese gut beherrscht. So gesehen kann Handwerk „konservativ“ sein, und dagegen hat in Ligeti etwas revoltiert. Ligeti war ja nicht nur kultivierter Kenner des Bach-Stils, sondern auch einer, der gern Tabus brach, Konventionen zerstörte und durch gutes Handwerk gezogene Grenzen überschritt.

Aber ein Komponist, der mehr will als nur Tabubruch und Traditionszertrümmerung, muss gleichwohl über ein gewisses Handwerk verfügen, um seine Ideen realisieren zu können. Eine höhere Ebene von Handwerk wäre die, die es ermöglicht, Ideen plastisch auszuformulieren, gleichsam präzise auf den Punkt zu bringen, ein Gefühl für Prägnanz zu entwickeln. Auf dieser Ebene ist der Komponist nicht mehr an die Regeln und Konventionen der unteren handwerklichen Ebene gebunden – bekannte Beispiele sind die „Puccini-Quinten“ und die parallel geführten Mixturklänge bei Debussy. Handwerk im Sinne der Herstellung von prägnanten Charakteren ist alles andere als konservativ, sondern bereit, Konventionen und Regeln im Dienste eines plastischen neuen Bildes zu brechen, nicht aus Selbstzweck. Ein solches Gefühl für Prägnanz kann nicht gut genug entwickelt sein, und es fehlt jenen Komponisten, die eben nur handwerklich gut gemachte Arbeit (im Sinne der unteren Ebene) abliefern, seien es die Mendelssohn-Epigonen des 19. oder die Ligeti-Epigonen des 20. Jahrhunderts. Ligeti soll einmal zu einem handwerklich gut gemachten Stück gesagt haben: „Aber es blüht nicht.“ Genau dies benennt sehr schön den fehlenden Schritt zur prägnanten, plastischen Gestalt. Gleichwohl muss man die untere Ebene von Handwerk in gewissem Umfang beherrschen, um sich auf der höheren sicher bewegen zu können. So hat bei Ligeti Hamburg doch immer wieder über Los Angeles gesiegt.

Im Sinne dieser höheren Ebene von Handwerk reagierte Ligeti fast allergisch auf Klischees und Konventionen zeitgenössischer Musik. Ich selber hatte das zu spüren bekommen, denn mein erster Versuch, schon 1973, gleich nach seiner Berufung in seine Klasse zu kommen, schlug fehl. Ich hatte ein „Konzertstück für Klavier und Kammerorchester“ vorgelegt, das mit der kleinen Sekunde e-f begann, dann baute sich ein Cluster auf, ganz ähnlich wie im 1. Satz von Ligetis Cello-Konzert. Damit war mein Stück erledigt – ich bin nicht sicher, ob er den weiteren Verlauf überhaupt zur Kenntnis genommen hatte: Dem Cluster folgte ein figurierter As-Dur-Dominantseptakkord, dann wurden in mehreren Anläufen immer die Töne herausgefiltert, die nicht zu Des-Dur gehörten, bis das Stück mit einem Des-Dur-Dreiklang schloss. Eine ganz originelle Idee, aber gut ist das Stück tatsächlich nicht ...

Später konzentrierte sich sein vernichtendes Urteil gern in dem Satz. „Das klingt nach moderner Musik!“ Er hasste die Konventionen jener neuen Musik, die die Programme der Musikfestivals füllte und erwartete eine persönliche Handschrift, ja Originalität, und schien dabei vergessen zu haben, dass er selber erst nach Phasen der Bartok-Imitation seinen eigenen Stil gefunden hatte. Für ein Lernen durch Nachahmung war in seinem Unterricht wenig Raum, auch nicht für ein langsames, allmähliches Originellwerden, und das war für sehr junge Studenten ein dramatisches Problem, das zu schweren Krisen bis zur Aufgabe des Komponierens führen konnte. Es war also besser, schon woanders ein Studium begonnen oder abgeschlossen zu haben, und in einem Alter in Ligetis Klasse einzutreten, in dem der eigene Weg sich zumindest abzeichnete. Die Diskussionen in der Klasse waren hart genug – Ligeti selbst hatte, als Sprachgenie, das er ja auch war, eine diebische Freude an boshaften und auch verletzenden Formulierungen, die oft ins Schwarze trafen, und das Profilierungsstreben und die Rivalitäten der Mitstudenten, die dann ebenfalls über das zur Diskussion stehenWerk herfielen, ließen die Kritik bisweilen bedrohlich eskalieren – hin und wieder kam es fast zu Tränen. In späteren Jahren wurde Ligeti milder, sehr zum Mißfallen eines Studenten der ersten Jahre, der vorbeischaute und im Stil der Anfangszeit nun selber heftig loslegte, die Gruppe folgte ... das Opfer der vernichtenden Kritik war mein Klaviertrio „Elegien und Capricci“. Als dann das Werk aufgeführt und im Rundfunk gesendet war, fanden die meisten es übrigens plötzlich gut, und einer sagte entwaffnend: „Wir können eben keine Partitur lesen.“

Die Diskussion entzündete sich selten an handwerklichen Problemen oder an kompositionstechnischen Details (außer gelegentlich an instrumentationstechnisch-klanglichen), als vielmehr an ästhetischen Fragen. Seit den späten 70er Jahren, als mit der „Neuen Einfachheit“ die Postmoderne auch in die Musik einzog, stand die Frage nach einer neuen Romantik im Zentrum, und damit die Frage:Was kann und darf man heute komponieren?Wieweit darf man in Harmonik und Formensprache (Melodik stand noch überhaupt nicht zur Debatte) auf die Tradition zurückgreifen?

Bei aller Kritik an der Avantgarde und den längst verhärteten Konventionen der zeitgenössischen Musik lehnte Ligeti jegliche Rückwärtsgewandtheit ab – und war doch selber nicht frei davon. Wir versuchten ihm einmal klar zu machen, dass „San Francisco Polyphony“ doch eigentlich ein ziemlich romantisches Stück sei – er wurde in seinem Sessel immer kleiner ... In der Tat waren Ligetis eigene Arbeiten geprägt von dieser Ambivalenz: einerseits die Suche nach neuen Wegen und die Sehnsucht nach totaler Offenheit, und andererseits die Verbindung zur Tradition, die ihm dann aus Anlass seines Trios für Violine, Horn und Klavier auf dem Symposium in Graz 1984 massiv zum Vorwurf gemacht wurde. Jetzt fand Ligeti sich auf derselben Anklagebank wieder, auf die er einige seiner Schüler so gern setzte.

III.
Einzigartig war dieWeltoffenheit in der Ligeti-Klasse, einerseits durch die Studenten, die aus anderen Ländern und Kulturen kamen (Japan, Korea, China, Mittelamerika). Diese kamen in der Regel mit dem Wunsch nach Hamburg, die Musik der westlichen Avantgarde besser kennen zu lernen – und wurden von Ligeti dazu gebracht, in Deutschland nach den Wurzeln in ihrer eigenen Kultur zu suchen. Sie sollten nicht das internationale Avantgarde-Esperanto sprechen lernen, gegen das Ligeti ja so empfindlich war, sondern sich spezifisch mit der Musiksprache ihrer eigenen Tradition auseinandersetzen. Da hat es tatsächlich interessante Entwicklungen gegeben, und gerade in diesem Bereich hat Ligetis Unterricht viel bewirkt.

Andererseits war Ligeti unglaublich neugierig auf alle Arten von Musik, brachte immer wieder Neues mit und stellte es uns vor – seien es Werke von Harry Partch, Conlon Narcorrow, Musikaus Indonesien, Afrika und der Mongolei. Auch Jazz und Pop wurden diskutiert, ebenso wie die Musik des späten Mittelalters, die unter dem Begriff „ars subtilior“ bekannt ist – all das erweiterte den Horizont weit über das hinaus, was im engeren Sinne als klassische Tradition und Avantgarde bezeichnet wird. Dabei erwies es sich als großer Vorteil, daß Ligeti den Unterricht inzwischen in seine Wohnung verlegt hatte. So waren alle Partituren und Aufnahmen zur Hand, die er uns zeigen wollte. Seine Neugier galt insbesondere anderen Stimmungssystemen und der Mikrotonalität, sowie anderen Arten, Rhythmik zu strukturieren. So zeigte sich, dass Ligeti genauso ein Suchender war wie seine Schüler, und diese gemeinsame Suche und die wechselseitigen Anregungen machten die Treffen der Klasse so fruchtbar. Ligeti hat auch von seinen Studenten gelernt bzw. Anregungen aufgenommen – das hat er selber mehrfach erwähnt. Jeder Standpunkt wurde der Kritik ausgesetzt, das konnte hart sein, aber wer dann seinen Weg weiterging, tat es bewusster und sicherer. Charakteristisch für die Komponisten der Ligeti-Klasse ist ein hohes Maß an Bewusstheit, ein hohes musikalisches Reflexionsniveau.

Je älter Ligeti wurde, desto mehr bezog er seine eigenen früheren Arbeiten in den kritischen Diskurs mit ein. Es war aber eine heikle Sache, Ligetis Musik zu kritisieren – er konnte sehr empfindlich reagieren, gab das auch zu, in einer Situation, wo sich Einige nur über eine Seite aus einer seiner Partituren etwas lustig machten, die nur aus wenig Noten und unglaublich vielen Anmerkungen zur Aufführung bestand. In der Zeit, als er an der Oper „Le Grand Macabre“ arbeitete, zeigte er mir Seiten, die gerade fertig geworden waren. Ich war so kühn, ihn auf ein in meinen Augen dramatisches formales Problem hinzuweisen: Er wollte ja in die rezitativisch-lockere Textur geschlossene Abschnitte einfügen, und ich machte ihn darauf aufmerksam, dass eine einheitliche Struktur noch keinen geschlossenen Formteil garantiert, da müsse mehr an formaler Binnenstruktur hinzukommen – eine einheitliche Struktur bricht nur ab und verhindert nicht, dass die Musik sich von Detail zu Detail hangelt. Genau dieser Eindruck von den Partiturseiten her hat sich dann beim Hören bestätigt. Später erwähnte Ligeti, er habe über meine Kritik viel nachgedacht. Vielleicht ist dieser Punkt einer der Gründe, weshalb Ligeti die Oper letztlich für misslungen hielt.

IV.
„Qualität vermittelt immer den Eindruck einer geordneten, intakten Welt“ – vielleicht enthält dieser von konservativer Seite (Michael Braunfels 1975, S. 79) geäußerte Satz doch bedenkenswerte Einsichten. Was ist aber, wenn ein Komponist seine Welt als chaotisch und ungeordnet empfindet und dies in seiner Musik auch zum Ausdruck kommt – bleibt ihm dann Qualität im höchsten Sinne unerreichbar?

Ligeti hat die „ars subtilior“, zu der er sich in besonderem Masse hingezogen fühlte, in einem Interview (Dibelius 1994, S. 256) mit der Pest, dem hundertjährigen Krieg zwischen England und Frankreich und dem Schisma (zwei Päpste, in Rom und Avignon) in Verbindung gebracht. Hat er jemals die Musik seiner Generation und seine eigene mit den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs, der Judenverfolgung und dem Kalten Krieg in Beziehung gesetzt? Meines Wissens hat er sich nie dazu geäußert, aber die Parallele zwischen dem 14. und dem 20. Jahrhundert, die er selber suggeriert, würde diese Frage zumindest nahelegen. Das könnte die Beziehung von Handwerk und Ästhetik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts neu beleuchten.

Möglicherweise sind im Handwerk im allerhöchsten Sinne, wie Bach und Mozart es verkörpern, Werte und Ideale einer Kultur verschlüsselt: in der Balance von Emotion und Ratio, im Verhältnis von Teil und Ganzem (mit Schiller als Bild von Individuum und Gesellschaft dechiffrierbar), damit einhergehend im Beziehungsreichtum, im Aufeinander-Bezogensein der Teile, und in der Frage nach der musikalischen Zeit (als Versuch, ein verstehbares Nacheinander herzustellen) und damit in der Bedeutung der Form, ja der großen Form. Ligeti war ehrlich genug, der großen Form auszuweichen – meine eigenen Versuche in diese Richtung betrachtete er mit einer gewissen ironischen Skepsis, als würde ich einem völlig veralteten Ideal nachlaufen. Ich kann mich auch nichterinnern, dass Fragen der Form, der formalen Entwicklung und der formalen Balance in den Diskussionen der Klasse eine Rolle gespielt hätten. Wichtiger waren Ligeti die Plastizität der Idee, der eigenen Tonfall, die Originalität – am besten, es war „crazy“, etwas schräg und irgendwie sensationell.

Eine Bemerkung, die mich lange bewegt und beschäftigt hat, fiel nachdem er die Partitur meiner Komposition „Abendländisches Lied“ für Englischhorn und Orchester gelesen hatte: „Sie müssen ein glücklicher Mensch sein.“ Zunächst wollte ich protestieren, habe dann aber dies so stehen gelassen – tatsächlich aber ist Glücklichsein nicht das, was man gemeinhin mit Künstlern des 20. Jahrhunderts in Verbindung bringt. Und doch zeigt diese Bemerkung eine Ahnung der ästhetischen Differenz zwischen uns beiden. Ligeti sah sich wohl eher als ein „musicien maudit“ – um nicht „poet maudit“ zu sagen, einem zuerst von Baudelaire und Rimbaud gelebten Typus, sich außerhalb der Gesellschaft fühlend, mit sich und derWelt zerfallen und daraus seine schöpferische Energie ziehend. Zynismus und Selbsthass waren auch Ligeti nicht fremd.

In den ersten Jahren, die ich in der Klasse war, ging es oft um die Haltung von „coolness“ in der zeitgenössischen Musik, nicht nur im Jazz. „Cool“ schien für viele ein Ideal zu sein, das mir persönlich ganz fremd blieb. Ligeti selbst sah sich in der Tradition der „kalten“ Komponisten, daher seine Affinität zu Strawinsky. Die Studie des Literaturwissenschaftlers Helmut Lethen über die „Verhaltenslehren der Kälte – Lebensversuche zwischen den Kriegen“ (1994) allerdings war damals noch nicht erschienen. Sie beschreibt einen in der Anthropologie und der Literatur vorherrschenden Menschentypus, der, bindungslos, stets hellwach und in ständiger Alarmbereitschaft sich einen Panzer aus Kälte und Distanz zulegt, unverletzlich erscheinen möchte und alles, was verletzbar macht, von sich weist und ausgrenzt: vor allem die Welt der Gefühle und des Ausdrucks. In der Musik spiegelt sich diese Haltung im Neoklassizismus und den zwölftönigen Werken der 20er Jahre, die Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg (Schultz 2005).

Musik, die sich dieser „Ästhetik der Kälte“ verpflichtet fühlt, ist irgendwo energetisch blockiert, d.h. die Kräfte in Melodik, Harmonik, Rhythmus und Form kommen nicht ins Fließen, können sich nicht frei entfalten, nehmen den Hörer nicht in die Musik hinein, sondern lassen ihn draußen vor. So entsteht eine Distanz, die als Kühle, als Ausdruck von Emotionslosigkeit oder von gefrorenen Gefühlen wahrgenommen wird. Walter Benjamin hat im Zusammenhang mit Baudelaire von der Bedeutung der Schocks gesprochen, und die häufig bei Ligeti zu findende Vorschrift „Aufhören, wie abgerissen!“ könnte auf einen Kontext traumatischer Schocks hinweisen. In diesem Zusammenhang findet man oft auch die Unfähigkeit, Gefühle auszudrücken, eben jene Kälte, die für die Modernität seit den 20er Jahren typisch ist.

Mag sein, dass der Umgang mit energetisch blockierten musikalischen Strukturen für einen Komponisten, der sich den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts aussetzt, unumgänglich ist, bestimmt ist er wichtig als künstlerische Option, als generelle Haltung dagegen problematisch. Handwerk im höchsten Sinne als Fähigkeit, den musikalischen Kräften in Melodik, Harmonik, Rhythmus und Form dahin zu folgen, wohin sie von sich aus wollen (eine Formulierung Adornos variierend), diese Haltung aktivster Rezeptivität müsste die Grenzen einer „Ästhetik der Kälte“ überschreiten können. Nach meinem Eindruck balancierte Ligeti immer im Grenzbereich – in manchen Werken (wie in „Melodien“, ein Stück, das ich immer noch sehr bewundere) ist ihm auf seine Weise eine sehr schön im Fluss sich entwickelnde Musik gelungen.

Die Oper „Le GrandMacabre“ (nach Michel de Ghelderode) dagegen scheint aus der Position des „musicien maudit“ heraus entstanden zu sein – und ist vielleicht daran gescheitert. Vermeintliche und tatsächliche Tabus brechen, eine pubertäre Freude am Perversen und Infantilen, die geradezu programmatische Regression der Zeitstruktur auf das Hier und Jetzt, all das rächt sich auf der musikalischen Ebene im Zerfall in beziehungslose Einzelmomente, seien sie für sich genommen auch noch so „crazy“, in Langeweile, die allerdings durch die Szene überspielt werden kann, denn natürlich ist das Stück pralles Theater.

So wie die Oper ein Beispiel dafür gibt, wie eine ästhetische Position das musikalische Handwerk beschädigen kann, so zeigen andererseits die „Hölderlin-Phantasien“ für Chor das Gegenteil einer wunderbar genau und sensibel komponierten, meisterhaften Textur. Jede ästhetische Frage lässt sich in eine handwerkliche übersetzen, weil die Ästhetik – oft unbewusst und dem Komponisten selten zugänglich – das geheime Telos des Schaffens verschlüsselt enthält, und dieses will mittels des Handwerks realisiert werden. Ghelderode und Hölderlin – das waren die Pole, deren Spannung Ligeti aushalten musste, künstlerisch in der Spannung zwischen der Liebe zum verrückten, sensationellen Detail und der Ahnung des in vollkommenen Handwerk codierten Ideals eines stimmigen, beziehungsreichen Ganzen.

V.
In den späten Jahren hat Ligeti immer mehr Bewunderung für Mozart gezeigt. Hat er selbst jemals die Sehnsucht nach einer solchen wunderbar ausbalancierten, vollkommenen Musik gehabt, nach einer – vielleicht „glücklichen“ Musik? Die Etüde, die dann den Titel „L'escalier du diable“ erhielt, sollte ja ursprünglich in diese Richtung gehen, und wurde dann doch etwas „sehr, sehr Dunkles“ (Dibelius 1994, S. 270). War wirklich so entscheidend, dass Ligeti in Kalifornien Zeuge erschreckender Armut geworden war, wie er selber sagte, oder war er mit seinem Vorhaben an eigene ästhetische und handwerkliche Grenzen gestoßen?

Bestimmt war Ligeti, wie viele Komponisten seiner Generation, durch die Erfahrungen von Krieg, Verfolgung und des Verlustes seiner Angehörigen durch den Holocaust traumatisiert (Schultz 2005), und es ist bewundernswert, wie es ihm gelang, durch Abwendung von der seriellen Avantgarde die Musik aus ihrer traumatischen Erstarrung zu lösen und zur Lebendigkeit, Bildhaftigkeit und Ausdrucksfähigkeit zurückzuführen. Aber eine gewisse Grenze vermochte er dabei offenbar nicht zu überschreiten, was die Nähe zur Tradition und ihren Bedeutungsschichten, was Melodik und Tonalität betrifft. Auch nach seiner Pensionierung an der Musikhochschule traf sich die Klasse gelegentlich mit ihm bei Manfred Stahnke. Bei einer solchen Gelegenheit stellt ich meine Tanzdichtung „Shiva“ vor, ein Werk, in dem die Evolution des Bewusstseins als Werk des im Weltenrad tanzenden indischen Gottes dargestellt wird, und das natürlich zahlreiche Bezüge zu verschiedensten Ebenen der Tradition ausweist. Wie so oft kam der Verriss: „Das habe ich alles schon irgendwo gehört!“ Als wir uns aber verabschiedeten, drückte er mir die Hand mit den Worten: „Aber Ihr Stück hat mich sehr beeindruckt!“

So war es oft gegangen: Anerkennung für eine handwerklich gut gemachte Partitur verband sich mit der meist kopfschüttelnd gestellten Frage: „Aber warum schreiben Sie so altmodische Musik?“ Entwicklungen können verschiedene Richtungen nehmen, und vielleicht können diejenigen, die den einen Weg gehen, gar nicht so recht wahrnehmen, was sich auf einem anderen an Neuem zeigt. Heute, in großem Abstand und nach viel musikphilosophischer Reflexion würde ich antworten: „Weil die im höchsten Begriff des Handwerks verschlüsselte Ästhetik für mich nach wie vor aktuell ist.“

Literatur:
Walter Benjamin: Über einige Motive bei Baudelaire, in: Illuminationen, ausgewählte Schriften, hrgb. von Siegfried Unseld, Franfurt 1955
Michael Braunfels: Die Krankheit der verwalteten Musik, Zürich 1975
Ulrich Dibelius: György Ligeti – Eine Monographie in Essays, Mainz 1994
Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte – Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt 1994
Wolfgang-Andreas Schultz: Avantgarde und Trauma – Die Musik des 20. Jahrhunderts und die Erfahrungen der Weltkriege, in: Lettre International Nr. 71, Berlin 2005