Aktuelles
J. A. Reincken im Fokus: 1722–2022
Hamburg, 24.–26. November 2022
Die Hochschule für Musik und Theater Hamburg (HfMT) veranstaltet in Zusammenarbeit mit dem Institut de Recherche en Musicologie - IReMus (Sorbonne Université, CNRS, BnF, Ministère de la Culture), Paris, eine interdisziplinäre Tagung »J. A. Reincken im Fokus: 1722–2022« (24.–26. November 2022).
Organisation
- Christophe Guillotel-Nothmann (IReMus Paris)
- Francesca Mignogna (IReMus Paris)
- Jan Philipp Sprick (HfMT Hamburg)
- Roberta Vidic (HfMT Hamburg)
Wissenschaftlicher Beirat
- Achille Davy-Rigaux (IReMus Paris)
- Michael Heinemann (HfM Dresden)
- Théodora Psychoyou (IReMus Paris)
- Ivana Rentsch (Universität Hamburg)
Am 24. November 2022 jährt sich zum 300. Mal der Todestag von Johann Adam Reincken (1643–1722), Organist an der Hamburger Katharinenkirche, zentrale Figur des Collegium Musicum und Mitbegründer der Oper am Gänsemarkt. Reincken ist als Leitfigur der norddeutschen Orgelschule und »kaum zu überschätzende Einflussquelle« auf Johann Sebastian Bach (Emery & Wolff 2001) in die Geschichte eingegangen. Unabhängig davon fand sein eigenes Schaffen bisher nur eine geringe und auf Spezialstudien begrenzte Aufmerksamkeit. Ausgehend vom soziokulturellen Kontext, über die materielle Kultur, bis hin zu den musiktheoretischen Schriften und den Kompositionen selbst, macht sich dieses Symposium zur Aufgabe, um damit Reinckens Werk und Wirken als solches besser zu erfassen und damit seinen Platz in der sowohl lokalen als auch europäischen Musik- und Kulturgeschichte neu zu bestimmen.
Sektion 1 – Sozio-kultureller Kontext
Das kulturelle Leben der Hansestadt Hamburg erfährt in der Mitte des 17. Jahrhunderts weitreichende Veränderungen. Der 1641 zum Kantor am Johanneum ernannte Thomas Selle trägt zu einer wesentlichen Qualitätsverbesserung und stilistischen Erweiterung der Kirchenmusik bei. Selles Nachfolger, Christoph Bernhard, plädiert für die Einführung von Elementen des Stylus modernus in die liturgische Komposition. Auch Organisten greifen den Stylus modernus auf und integrieren ihn, sowohl theoretisch als auch praktisch, in die Tradition des norddeutschen Kontrapunkts. Der daraus resultierende Stylus phantasticus wirkt identitätsstiftend und macht die Hamburger Kirchenmusik, angeführt von emblematischen Figuren wie Reincken, zu einem überregionalen Aushängeschild.
In diesem Umfeld kommt der Gründung des Collegium Musicum im Jahr 1660 eine entscheidende Bedeutung zu. Es fungiert als Bindeglied zwischen der Autonomisierung der Kirchenmusik und dem Entstehen eines weltlichen Vokalrepertoires (Gauthier 2009, 79–88). Als Treffpunkt für Instrumentalist:innen, Sänger:innen, Theoretiker:innen, Berufs- und Laienchöre bereitet es den Boden für neue musikalische Formen, die Theater, Poesie und Gesang miteinander verbinden. Die Gründung ihres ersten Aufführungsorts, die Oper am Gänsemarkt, geht 1678 auf Reincken zusammen mit Gerhard Schott und Peter Lütjen zurück. In dieser Sektion sollen Reinckens Persönlichkeit, Wirken und Einfluss in den hier skizzierten sozio-kulturellen Kontext eingebettet und aus dessen Perspektive beleuchtet werden.
Sektion 2 – Materielle Kultur
Forschung zur materiellen Kultur, die einen Bezug zu Reincken und seinem Umfeld aufweist, gilt vor allem der Ikonografie und der Instrumentenkunde. Wichtige Voraussetzungen hierfür sind die Wiederentdeckung des Gemäldes Häusliche Musickszene (1674) von Johannes Voorhout und die Rekonstruktion der großen Orgel der Hauptkirche St. Katharinen. Diese und weitere Gegenstände bieten Anhaltspunkte für Untersuchungen von Reinckens Wirken im Bereich der Haus- und Kirchenmusik.
Diese Sektion zielt allgemein auf eine Vertiefung bisheriger Forschungsergebnisse aus einer interdisziplinären Perspektive. Es stellen sich daher die Fragen, welche Bedeutung den ikonographischen Darstellungen in Verbindung mit der musikalischen Praxis zugesprochen werden kann, oder auf welche Weise Instrumentenbau oder raumakustische Bedingungen einen Einfluss auf Reinckens Schaffen ausgeübt haben können. Die Häusliche Musickszene soll dann neben Reincken auch Dietrich Buxtehude und Johann Theile darstellen. Das Musizieren unter befreundeten Komponisten steht im Zusammenhang mit dem Collegium musicum und kann in der Hamburger Musikgeschichte bis zum 18. Jahrhundert weiterverfolgt werden. Die historische Orgel in St. Katharinen wurde für eine norddeutsche Backsteinkathedrale gebaut, unter Aufsicht von Reincken erweitert und blieb von Arp Schnitger unberührt. Neben Fragen der Kompositions- und Aufführungspraxis innerhalb der Norddeutschen Schule kann auch ein Konzept von Klangarchäologie diskutiert werden.
Sektion 3 – Musiktheoretische Schriften
Der X. Band der Sweelinck-Gesamtausgabe gewährt der Musikforschung seit Beginn des 20. Jahrhunderts Zugang zu den von Sweelinck verfassten und durch seine direkten und indirekten Schüler – so auch Reincken – erweiterten Kompositionsregeln. Die vom Herausgeber beabsichtigte Rekonstruktion einer »Sweelinck’schen Urform« Institut de recherche en musicologie der Kompositionslehre (Gehrmann 1901) hat jedoch als nachhaltige Konsequenz, dass Reinckens Beitrag in den Hintergrund gerät. Lückenhaft erschlossen bleibt dieser Beitrag ebenfalls, weil ein von Reincken eigenhändig verfasstes Manuskript (D-Hs ND VI 5002) bis vor kurzem vom Editionsprozess ausgespart blieb.
Ziel dieser Sektion ist es, die Musiktheorie Reinckens durch ein gezielt auf den Theoretiker ausgerichtetes und umfassendes Quellenstudium neu zu beleuchten. Neben den Themenfeldern doppelter Kontrapunkt und Fuge, die schon Gegenstand früherer Studien waren (u.a. Walker 1986, Schäfertöns 1998, 2000), sollen hier ebenfalls andere, weniger untersuchte Theoriepunkte, wie Takt-, Modus- und Transpositionslehre berücksichtigt werden. Ein weiterer Schwerpunkt liegt in der Präzisierung der Genese und Überlieferung von Reinckens Musiktheorie. Dazu gehört zum einen die Rekonstruktion des intertextuellen Netzwerks, in welches sich die Schriften fügen und zum anderen die Reflexion über ihre Ziele und Absichten. Wurden die Sweelinck-Manuskripte von Gehrmann bis hin zu Braun (1994) als Ergebnis von Unterrichtssituationen interpretiert, lässt sich nicht die gesamte Musiktheorie Reinckens vor diesem didaktischen Hintergrund verstehen, sodass ihr Sinn und ihre Intentionen neu hinterfragt werden sollen.
Sektion 4 – Musikalische Werke
In dieser Sektion stehen zwei Aspekte der Kompositionen von Reincken im Fokus, die in der Forschung bisher in unterschiedlicher Weise Probleme aufgeworfen haben. Da die meisten Kompositionen Reinckens nicht in zeitgenössischen Drucken vorliegen hat sich die Musikphilologie mit der Erstellung von Ausgaben verschiedener Werkgruppen bereits große Verdienste erworben. Allerdings mussten etwa die Kompositionen für Tasteninstrumente noch bis zu Willi Apels Gesamtausgabe aus dem Jahr 1967 warten.
Das Gefälle zwischen der häufig biographischen Erwähnung Reinckens in musik- und kompositionsgeschichtlichen Publikationen und der vergleichsweise späten Verfügbarkeit von gesicherten Notentexten zeigt sich in ähnlicher Form auch auf dem Gebiet der musikalischen Analyse. Obwohl der Name Reincken in fast keinem Text fehlt, der sich mit der Genese und Ausdifferenzierung von Johann Sebastian Bachs Stil beschäftigt, existiert eine analytische Auseinandersetzung mit seinen Kompositionen bislang nur in rudimentärer Form. Reinckens oft konstatierte Vermittlerfunktion in der Stil- und Kompositionsgeschichte zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert wird in der Regel kaum substantiiert. In den Vorträgen dieser Sektion sollen einerseits Probleme der Zuschreibung und Datierung erörtert werden. In einem weiteren Themenschwerpunkt soll die Frage nach der kompositionsgeschichtlichen Verortung von Reinckens Musik analytisch bearbeitet werden.

